deutschland färbt schon
auf mich ab, weil ich hab
einen text über eine fahrt
mit der deutschen bahn
geschrieben
ein text über eine fahrt mit dem ice von berlin nach wien im juni 2024
wie absurd ist eigentlich der kontrollverlust, dem sich menschen auf einer neunstündigen ice-fahrt durch ganz deutschland aussetzen, weil sie nicht wissen, ob angenehme oder weniger angenehme personen den nachbarsitz belegen werden? so eine ohnmacht muss man sich erstmal hochstilisieren – „zum zwischenmenschlichen abenteuer!“ – um sie aushalten zu können.
einfacher ist es, wenn man sich zu dem idealistisch veranlagten schlag zählt, der sich von einem beliebigen gemeinschaftsereignis wie das einer bahnfernreise prinzipiell eine angenehme benetzung aller fünf sinne erwartet. solche leute kleben sich „zusammen ist man weniger allein“-wandtattoos auf die küchenzeile, sagen sätze wie „die schulzeit war die schönste zeit“ und lächeln die ganze fahrt über von berlin nach wien selig aus dem fenster, während sie ab und an von ihrer großformatigen zeitung aufblicken.
wer aus meinen zeilen verachtung liest, liegt allerdings falsch – das hier sind worte der bewunderung. ich hätte gerne die unberührbare zuversicht dieser philanthrop:innen, denen es sichtlich egal ist, wenn sich die anfangs eigentlich netten mitreisenden im eigenen radius mehr und mehr als dauerräuspernde blunzis offenbaren, die ohne kopfhörer filme schauen, fischbrötchen auspacken und irgendwann so laut schnarchen, dass die reale gefahr besteht, sie könnten die körperspannung verlieren und mit ihrem kopf in richtung der eigenen schulter wandern. (wichtig: immer sofort die lehne zwischen den sitzplätzen runterklappen, bevor noch jemand kommt. danach ist es zu spät. für mich war es zu spät.)
abschaffen: rücksichtloses pennen auf vierer-sitzen
zum thema rücksichtsloses pennen auf vierer-sitzen fällt mir ein österreichischer ausdruck ein: „es menschelt hier halt“. er wird gerne im arbeitsleben verwendet, um unkollegiales verhalten herunterzuspielen. ich hasse ihn sehr, da er den akteur:innen, die sich „menschelnd“ – übersetzt: respektlos – verhalten, jede verantwortung für ihr handeln abnimmt. überträgt man theoretisch selbige aussage, also „es menschelt hier halt“, auf den zugkontext bedeutet das: „es ist vollkommen okay, dass hier jemand all seinen körperfunktionen freien lauf lässt. die person kann halt nicht anders.“ – nein, sie kann schon, sie will nur nicht anders.
aber ich schweife ab. mein punkt ist: die deutsche bahn unterstützt dieses gedudelte menscheln, bewusst oder unbewusst, leider weiter. anstatt auf den digitalen anzeigen die exakten platzreservierungen anzugeben (z.b.: reserviert von nürnberg nach wien), schreibt sie auf alle sitze die gleiche information: „gegebenenfalls reserviert“. somit wird den reisenden selbst die anstrengende kommunikations- bzw. spekulationsarbeit überlassen. wie oft ich gefragt wurde, ob hier frei sei und wie oft ich sagen musste: „ich weiß es leider nicht, ob noch jemand kommt“ – sicher drei mal. klingt wenig, aber mir war es mehr als genug, denn abgehetzte reisende mit riesentrolleys, an denen entgegenkommende sich vorbeiquetschen dürfen, gefällt so eine vage auskunft nicht. man will sitzen bleiben können, wenn man schon den halben hausrat mitführt.
einführen: gepäck über dem kopf verstauen können, ohne jemanden oder sich selbst dabei zu erschlagen
vielleicht wird deshalb auf zugfahrten so viel konsumiert – verantwortlich könnte der hohe emotionale stress sein: rechtzeitig zum bahnhof gelangen, in den richtigen zug einsteigen, wenn am selben bahnsteig plötzlich ein unangekündigter einfährt (natürlich außen nicht beschriftet) und zum großen finale, in dem ganzen gewusel, den reservierten sitzplatz finden. wer dann noch das gepäck über dem kopf verstaut, ohne jemanden oder sich selbst dabei zu erschlagen, fühlt sich wie nach einem halbmarathon, und die fahrt hat noch nicht mal begonnen. wäre nur logisch, dass diese umstände zu einem erhöhten energieverbrauch des körpers führen, der dazu verleitet, die gesamte jause auf einmal aufzuessen, ohne wirklich satt zu werden.
denn kaum saßen meine nahen mitreisenden, kramten sie nach aufwendigen bis lieblosen snacks in ihren rucksäcken – und auch ich selbst musste mich zusammenreißen, nicht durchgehend auf etwas herumzukauen. der stundenlange wartemodus lässt scheinbar alle physiologischen grundbedürfnisse höher schlagen: essen, trinken, sauerstoff, bewegung, schlaf. bewegung und schlaf sind schwierig, wenn man andere in einem vollgestopften ice nicht zu sehr behelligen will, und lüften geht auch nicht. da bleiben nur noch essen und trinken übrig – zwei dinge, die man relativ etikettenkonform erledigen kann, wenn man auf schlürfen, schmatzen und geruchsstarke nahrungsmittel verzichtet. aber das proviant reicht trotzdem nicht. die ankunft soll endlich eintreten – das mindset ist: muss heute dringend noch „was richtiges“ zwischen die zähne bekommen.
zugroulette: rien ne va plus. nichts geht mehr.
offenbar ist das nur auf fernreisen so – in der ubahn oder auf kurzen pendelwegen gibt es diesen impuls nicht. aber es ist gut so, wie es ist. man kann nur froh sein, dass dank dieses unstillbaren futterdrangs der lebenswille beim einfahren in den zielbahnhof noch intakt genug ist. diesem ist es zu verdanken, dass der körper erst, nachdem man etwas gutes gefuttert und die unterkunft erreicht hat, eingeht. shut down. rien ne va plus. nichts geht mehr. (morgen dann vielleicht wieder)
am nächsten tag ist dann offensichtlich genug erholung passiert, um sich selbst auf die nachfrage, wie die bahnreise war, sagen zu hören: „voll okay. habe mir die fahrt eigentlich wesentlich unangenehmer vorgestellt.“
wer nicht selbst
lesen will, kann
hier den text
hören:
„wer aus meinen zeilen
verachtung liest,
liegt allerdings
falsch
– das hier
sind worte
der bewunderung.“