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GESEHEN

Wie die Sendung „Queer Eye“
mir gezeigt hat, dass ein schönes Leben
ohne People-Pleasing
geht

„All I Want For You
is to get to a place
where you can start
to be honest about
what you
want.
So you can start
making decisions
that work
for you.“

Karamo Brown

„Alles, was ich will, ist,
dass du an einen Punkt kommst,
von dem aus du anfangen kannst.
ehrlich zu sein, darüber,
was du willst.
Damit du anfangen kannst,
Entscheidungen zu treffen, die
für dich funktionieren.“

Karamo Brown

In dieser Reihe reflektiere ich über Gelesenes, Gesehenes und Gehörtes, das mein Leben nach der Pandemie bereichern könnte. (Oder bereits währenddessen)

In diesem ersten Text beschäftige ich mich mit der Frage, wie ein Leben ohne People-Pleasing gehen kann und was die Netflix-Sendung „Queer Eye“ damit zu tun hat

Im Zuge der Pandemie war es soweit. Weil ich die Lockdowns alleine in meiner Wohnung verbrachte, nahm ich diesmal das schon öfters geäußerte Angebot meiner Eltern, mir ihr Netflix-Passwort zu geben (ja, sie waren schon immer technikfortschrittlicher als ich), endlich an und landete kurz darauf in den Armen sämtlicher Realityformate auf der Streamingplattform. Darunter die großartige “Makeover“-Show Queer Eye.

Das TV-Show-Prinzip „Makeover“, auf deutsch: „Überarbeiten“, gibt es natürlich schon lange in den verschiedensten Ausprägungen. Im deutschsprachigen Raum war eine der ersten Begegnungen damit vermutlich Die Vorher-Nachher-Show mit Gundis Zámbó auf dem Fernsehsender tm3. In dieser bekamen Umstylewillige einen neuen Look verpasst, und obwohl ich damals schon gerne dabei zusah, wie das Leben fremder Menschen durch einen neuen Haarschnitt, Blazer oder Lippenstift instant mehr Strahlkraft aufnahm, entging mir dabei auch der gelegentliche Unmut nicht, mit dem so manche Gäste final über den Laufsteg stapften.

Vielleicht wurde das rot dann doch zu grell gefärbt oder das Blusenmuster zu plakativ gewählt? Unabhängig von schief gegangenen Einzelheiten waren es, im Nachhinein betrachtet, eben genau diese Momente, in denen man die Grenzen einer ausschließlich aussehensbasierten Veränderung beobachten konnte.

Anders bei Queer Eye. Die fünf Moderatoren der Emmy-gekrönten Sendung haben verstanden, dass auch die originellste Typveränderung nichts bringt, wenn sie erstens nicht ehrlich gefühlt wird und zweitens keine aufrichtige Evaluierung der Gesamtlebensumstände miteinschließt. Was den gelungenen Verwandlungseffekt bei Queer Eye nämlich ausmacht, ist kein oberflächliches Drüberstülpen von neuen Stylings, sondern ein gemeinsames Erforschen, welche Faktoren im Einzelnen zu einer gewissen Erstarrung in der Biografie der Kandidat_innen geführt haben. So wie es auch in Ansätzen bereits in der MTV-Show Made passiert ist. Festzuhalten ist also: Queer-EyeSchützlinge dürfen nicht nur, sondern sollen ihre Neuausrichtung sogar aktiv mitgestalten.

So auch geschehen in der Folge Episode 6, Staffel 5, in der Kandidat Ryan als DJ arbeitet und sich privat wie beruflich stark an seinen beiden Brüdern orientiert. Diese sind bereits verheiratet und arbeiten außerdem gerne im Familienunternehmen.

Ryan tut das aber eigentlich nicht, er möchte lieber seine Karriere in der Musikbranche weiter ausbauen. Dieses „eigentlich“ kenne ich gut. Und die damit verbundene Angst davor andere zu enttäuschen ebenso. Ryan ist ein People Pleaser, und ich bin es auch. (Zumindest immer noch zu einem großen Teil.)

People Pleaser sind Personen, die die Erwartungen anderer deutlich spüren, und diese schlimmstenfalls sogar höher stellen als ihre eigenen Lebensvorstellungen. Viele Kandidat_innen der Show haben solche Tendenzen – Kandidat Ryan ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, da er seine eigene Lebensplanung komplett pausierte, aus Angst innerfamiliär zu sehr aus der Reihe zu tanzen. Wie er wollte auch ich lange alle Erwartungen an mich erfüllen. Gleichzeitig habe ich darunter gelitten, meinen Wert als Person fast ausschließlich darüber zu generieren, für andere hilfreich oder funktionabel zu sein.

Und wenn ich doch mal an meine eigenen Bedürfnisse zuerst dachte, dann nur in Verbindung mit einem sehr schlechtem Gewissen, das es erstmal auszuhalten galt. Zu Spitzenzeiten führte diese Entwicklung bei mir dazu, dass ich mich nur mehr als eine Art Nebendarstellerin empfand, die hauptsächlich dafür da war, lieb daneben zu sitzen, während andere vor meinen Augen ihr Ding machten. Eine Dynamik, die absolut okay gewesen wäre, hätte sie mir ehrlich entsprochen, aber ich habe immer deutlich gefühlt, dass ich damit nicht glücklich bin.

Wie es häufig bei erstarrten Strukturen der Fall ist, ist die Grenze, ob es an einem selbst liegt oder am Gegenüber nicht mehr ganz klar festzustellen. Fahren andere ständig über einen drüber und fühlt man sich deswegen vom Leben so beschnitten? Oder lässt man sich ganze Zeit „freiwillig“ überfahren und steckt zurück, obwohl man das gar nicht machen müsste?

Das eigene Leben nach den Maßstäben anderer auszurichten wollen, ist, so habe ich von Queer Eye gelernt, auf jeden Fall ein Impuls, der vielleicht nicht ganz weggeht, aber den man zumindest gut kontrollieren lernen kann, indem man regelmäßig und aufrichtig „mit sich selbst eincheckt“.

Check-in, aber mit sich selbst.

Was Tan, Antoni, Jonathan, Bobby und Karamo in ihrem Format tun, ist ihren Kandidat_innen so eine Art „Check-in mit sich selbst“ beizubringen. Äußerlich und innerlich.

Schön ist, wie beim Zusehen das Gehirn bezüglich des eigenen Lebens mitrattert, und man sich irgendwann dieselben Fragen stellt, mit denen auch die Kandidat_innen konfrontiert werden.
Da kann dann, wie in meinem Fall, rauskommen, dass man (1) noch bunter und androgyner gekleidet durch die Welt laufen möchte, weil sich das gerade gut anfühlt. Oder (4) man als People Pleaser nicht mehr so oft den Fokus auf sich verlieren will und sich, zum Beispiel, mehr Zeit erbeten mag, bevor man Zusagen trifft, um die eigenen Kapazitäten abzuchecken.

Ryan hat am Ende der Folge übrigens beschlossen, sich aus dem Familienunternehmen zurückzuziehen und seine laufende Karriere als DJ weiter auszubauen.

Außerdem will er lernen, erstmal alleine mit sich happy zu sein, anstatt weiterhin seine Brüder für ihre Partnerinnen „zu beneiden“. Er kochte für die Verkündung seiner Entscheidung übrigens zum ersten Mal für die ganze Familie und schönerweise haben sich alle mit ihm gefreut.

Vermutlich verstehen selbst sogenannte Gleichgesinnte (ob für den Moment oder über Jahre hinweg) nicht immer alles intuitiv. Es reicht aber, so wie im Fall von Ryans Familie, es ehrlich zu versuchen und das auch zeigen zu können. Denn letzteres ist, wenn es prinzipiell zwischenmenschlich passt, wichtiger als das eigene Lebensmodell „zum besten“ zu küren.

Oder wie Queer Eye-Host Karamo Brown es so treffend formuliert hat, um Ryan beim Coaching den letzten Schubs zu geben: „Alles, was ich für dich will, ist, dass du zu einem Punkt kommst, von dem aus du anfangen kannst, ehrlich zu sein, darüber, was du willst. Damit du anfangen kannst, Entscheidungen zu treffen, die für dich funktionieren.“

GESEHEN
Queer Eye, Netflix, 5 Staffeln (2018 – laufend)

Die 6.Staffel wurde schon gedreht und spielt diesmal in Austin, Texas.
Release Date: 31.12. 2021

🔗 Imdb

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